Mittwoch, 2. März 2011

Marvin Harris und die Anthropologie

Vorbemerkung: Dieser Post ist gedacht für all diejenigen, die sich wundern, wer dieser Marvin Harris sein mag von dem hier oft die Rede ist und warum sie noch nie vorher von ihm gehört haben.

Marvin Harris war ein amerikanischer Anthropologe und Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher der 2001 im alter von 74 Jahren verstarb. Sein prägenstes wissenschaftliches Werk war "Cultural Materialism", ein Buch nicht über seine anthropologische Forschung, sondern ein philosophisches Werk über Wissenschaftstheorie.

Innerhalb der Gemeinde der Ethnologen und Anthropologen gilt Marvin Harris gemeinhin als "schwarzes Schaf". Seine Theorie, die die Anthropologie auf materielle Messgrößen zurückführen will, steht für sie im Widerspruch zum anthropozentrischen Selbstverständnis des Menschen.

Marvin Harris suchte nach einem Ansatz der in seiner Klarheit den Theorien der Physik nahe kommen sollte und fand diesen in einer Art gesellschaftlichem Energieerhaltungssatz. Diese Art von Ansatz war und ist scheinbar vor Allem der europäischen geisteswissenschaftlichen Forschergemeinde suspekt. "So einfach kann es nicht sein" höre ich aus den Antworten im wissenschaftlichen Streit Marvin Harris mit Claude Levi-Strauss und seinem Strukturalismus.

Ich denke, dass Marvin Harris Argumentation, in den Augen vieler Sozialforscher, dem Menschen den "freien Willen" in seiner Kulturentwicklung abspricht, da er die Kulturentwicklung auf eine Anpassung an die Tragfähigkeit eines bewohnten Ökosystems zurückführt. Dies jedoch scheint mir eine Überinterpretation dieses Begriffs zu sein. In Marvin Harris Argumentation ist Platz für eine selbstbestimmte Änderung der Gesellschaft.

Wer "Cultural Materialism" gelesen hat weiß, dass es Marvin Harris um die Formulierung eines gedanklichen Werkzeugs ging. Sein Ansatz ist ein Weg des Erkenntnisgewinns der es ihm erlaubte neue Einsichten in Gesellschaftliche Vorgänge zu formulieren, eine Abstraktion die komplexe Vorgänge auf eine einfache Größe zurückführt.

In der Naturwissenschaft geht man ähnlich vor. In der Hamiltonsche Mechanik formuliert man einfache Energiegleichungen um die Bewegung von Körpern zu untersuchen. Wer theoretische Mechanik studiert hat weiß, dass die Randbedingungen in diesen Betrachtungen (noch) fehlen. Diese Randbedingungen sind jedoch das A und O der eigentlichen Bewegungsgleichungen. Diese zu bestimmen ist harte Arbeit (meist unmöglich, da sich Mehrkörperprobleme chaotisch Verhalten).

Möglicherweise ist das der Grund warum mir der Ansatz von Marvin Harris als Werkzeug so gut gefällt. Die Energiebetrachtung lässt Raum für das darunterliegende Chaos komplexer Systeme. Wer (wie die Ökonomie) meint, diese mit mathematischen Modellen Abbilden zu können, ohne die Randbedingungen zu kennen, muss scheitern. Eine reine Energiebetrachtung kann jedoch schon Aussagen treffen ohne die Randbedingungen kennen zu müssen.

Marvin Harris geht in seinem Buch "Cultural Materialism" auf alle gängigen Denkschulen ein. Dabei geht er nicht zimperlich vor. Marvin Harris betonte aber auch, dass er zwar seinen Ansatz für den Besten hält, er aber jedem Wissenschaftler der einem stringenten Ansatz treu bleibt Wissenschaftlichkeit bescheinigt. (Im Gegensatz zu den Forschern die zuerst ein Ergebnis formulieren und dann erst nach einer wissenschaftlichen Methodik suchen dieses zu Begründen.)

Möglicherweise nahm er jedoch eine überzogene Arroganz des menschlichen Selbstbildes in Bezug zur Umwelt wahr. Das er diesem verzerrten Selbstbild des Menschen mit wissenschaftlichen Argumenten einen Spiegel vorsetzte mag ihm wohl den Unwillen seiner Zeitgenossen eingebracht haben. Seine Bücher hatten jedoch großen Erfolg und ich kann jedem raten einmal eines in die Hand zu nehmen.


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Anmerkung: In der Geisteswissenschaft ist die Suche nach der "Besten" Theorie ungleich schwieriger als in der Naturwissenschaft. (Siehe mein Post zu Wissenschaftstheorie) Mir scheint es will sich in der Geisteswissenschaft keiner gerne von seiner lieb gewonnenen Theorie trennen. Auch deshalb, weil sich die Gemeinde der Geisteswissenschaftler zu gerne im wissenschaftlichen Streit über die "Beste Theorie" ergeht. Dies scheint dem Geisteswissenschaftler ein großes Vergnügen zu bereiten.

Als naturwissenschaftlich geprägter Mensch ist man sehr verwirrt wenn einem so ein Disput das erste mal begegnet. Zumindest erging mir das so bei der Beschäftigung mit Marvin Harris und Claude Levi-Strauss. Mit Levi-Strauss Strukturalismus kann mein Gehirn nichts anfangen, möglicherweise muss man dafür Geisteswissenschaftler sein.

Marvin Harris Kulturmaterialismus entfaltete jedoch bei mir sofortige Gehirntätigkeit. Ich denke dies ist der Schlüssel bei der Entscheidung für die eine oder andere Geisteswissenschaftliche Erkenntnistheorie. Jeder muss die für ihn selbst Inspirierendste Theorie finden die ihm neue Erkenntnisse ermöglicht.

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