Montag, 15. September 2014

Die Erkenntnis und die Befreiung

"Wer arm ist ist selber Schuld!"  ist der bestimmende Mythos unserer Zeit.

Was bewirkt dieser Mythos in unserer Gesellschaft und was macht er mit uns als Individuum?

Es ein Mythos, der dem Individuum die alleinige Verantwortung zuspricht, teil zu haben an dieser Gesellschaft. Indem wir diesen Mythos verinnerlicht haben, unterwerfen wir uns unbewusst der Herrschaft des Rationalen und der ewigen Konkurrenz.

Die Stärke diese Lüge liegt darin, dass wenn wir sie als Lüge Erkennen, sie uns von unserer Gesellschaft entfremdet. Wenn wir Sie als Lüge erkennen bricht das gesamte Gebäude der Logik der Ungleichheit um uns zusammen und wir verstehen die Welt nicht mehr. In der Erkenntnis, dass wir nicht allein sind, werden wir daher paradoxerweise isoliert in einer Gesellschaft der unbedingten Individualität.

Es ist dieser Mythos der auch die Grundlage der ökonomischen Theorie ist. Der homo ökonomicus strebt allein nach seinem persönlichen Vorteil. Die Ökonomie spricht der Gesellschaft jeglichen Einfluss auf die Formierung des Individuums und sein Handeln ab, denn das wirtschaftliche Handeln ist stets Rational und strebt nach dem eigenen Vorteil. Paradoxerweise ist es dieser Mythos der wiederum unbewusst unser Handeln bestimmt, er ist die Prägung die wir in der Sozialisierung in dieser Gesellschaft erfahren. Der Mythos der die gesellschaftliche Prägung und unser unbewusstes verneint, prägt daher wie kein anderer das individuell Unbewusste und damit die Gesellschaft.

Unabhängig davon wieviel sonst von der Psychoanalyse Sigmund Freuds heute wissenschaftlich relevant ist, die Erkenntnis Freuds, dass wir nicht Herr im Haus in unserem eigenen Gehirn sind und das Unterbewusste unser Handeln in hohen Maße bestimmt, ist seine unumstritten größte Leistung.

Ein Wirtschaftsnobelpreis wurde vergeben an die Erforschung des Unbewussten durch Daniel Kahnemann, der den irrationalen Glauben an den rationalen Wirtschaftsteilnehmer eigentlich begraben hat. Es gibt keine Sozialwissenschaft oder Naturwissenschaft, die nicht das Handeln auf die Formierung unseres Selbst durch unsere Gene und der uns umgebenden Gesellschaft zurückführt.

Nach jeder dieser wissenschaftlichen Disziplinen sind wir Spiegel unserer Gesellschaft. Unsere soziale Prägung bestimmt das eigene Handeln. Der einzelne ist eingebunden in das gesellschaftliche Gewebe durch das er geprägt wurde. Seine soziale Stellung ist von keinem anderen Faktor mehr abhängig, als diesem Vorgang. Wer arm geboren wird, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch arm bleiben. Wer dennoch reich wird, hat dies auch den Möglichkeiten zu verdanken, die die Gesellschaft ihm gab. An Erfolg und Misserfolg des Einzelnen hat immer auch die Gesellschaft einen Anteil.

Möglicherweise liegt darin das irrationale festhalten am am Glauben an das rationale Selbst begründet. Denn in der Erkenntnis der gesellschaftlichen Prägung liegt auch die Gewissheit, dass jegliche Armut und jeglicher Reichtum immer auch in der Verantwortung der Gesellschaft liegt die diese zulässt.

Der Mythos "Wer arm ist ist selber Schuld", separiert uns von allen anderen und damit uns selbst. Er macht uns wirklich arm, da er uns ausschliesst vom Reichtum des Miteinanders. Es ist die Logik des ständigen Jeder gegen Jeden, die dieser Mythos legitimiert. Er gibt uns Absolution im Angesicht des Leidens anderer.
 
Um so mächtiger und reicher das Individuum, um so mehr ist es oft von der irrationalen Überzeugung beseelt, dass allein die eigenen Leistungen ihm Reichtum und Macht beschert haben und das Leiden anderer ihre eigene Schuld ist. Die Erkenntnis, dass der eigene Erfolg auch der Gesellschaft und dem Zufall zu verdanken ist, stellt diese Überzeugung und damit das eigene Leben in Frage. Es ist daher für das eigene psychische Wohlbefinden wichtig an dieser Lüge festzuhalten.

Reichtum und Macht sichert daher das fortbestehen dieser Lüge. Sie tut das ebenfalls Unbewusst und nicht aus der rationalen Entscheidung heraus ihre eigene Herrschaft zu sichern. Es ist eine überlebenswichtige unbewusste Handlung des Mächtigen und Reichen diese Lüge zu verbreiten, denn mit der Wahrheit kann er nicht leben. Es ist daher weit mehr als nur eine kognitive Dssonanz.

Dabei ist die Erkenntniss darüber, inwieweit unsere Umwelt unsere Handlungen und Entscheidungen bestimmen, der Schlüssel zur Befreiung von der Herrschaft des Unbewussten. Nur wenn wir unsere Entscheidungen und unser Handeln hinterfragen, können wir hoffen uns frei zu machen von der Herrschaft der Prägung, die wir von aussen erfahren haben. Erst wenn wir die Ketten sehen die unserem Gehirn angelegt wurden als sich unser Denken im Wechselspiel mit unserer Umwelt entwickelte, können wir hoffen sie zu sprengen.

Unumgängliche Schlußfolgerung aus der Erkenntnis der gesellschaftlichen Prägung ist auch, dass wir alle eins sind und nicht separiert. Wenn die Gesellschaft und unsere Umwelt mich zu mich selbst gemacht hat, dann ist diese Umwelt und die Menschen die unsere Gesellschaft ausmachen ein wesentlicher Teil von mir.

Wir können nur erkennen wer wir sind, unsere eigene Individualität nur begreifen, wenn wir erkennen, dass die anderen und unsere Umwelt ein maßgeblicher Teil von uns sind. Ich kann nur dann mich selbst als Individuum vollständig begreifen wenn ich hinterfrage wieviel von allem anderen das mich umgibt in mir ist. Wirklich Frei kann ich daher nur sein wenn ich meine eigene Unfreiheit erkenne.

Siehe dazu auch diesen Vortrag von Raoul Martinez:



Nachtrag:
Ich hatte vor einigen Jahren schon einmal diese Aussage des österreichischen Armutsforschers Martin Schürz (Österreichische Nationalbank) hier zitiert:
"„In der öffentlichen Debatte konkurrieren strukturelle Erklärungen menschlichen Handelns mit individualisierten Zuschreibungen von Verantwortung.

Soziale Ungleichheit kann verstanden werden als Resultat eines individuell zu verantwortenden Verhaltens, so dass Reichtum bzw. Armut den Betroffenen verdientermaßen zukommt.
Oder die Position in der sozialen Hierarchie wird verstanden als Effekt von strukturellen Ursachen, wie etwa ungleicher Startbedingungen, unter denen Individuen am Markt aufeinander treffen. Von der Antwort auf diese Fragen hängt ab, wie die Wirtschaftspolitik auf soziale Ungleichheit reagiert."
Obwohl die Auffassung individueller Verantwortung  die Debatte in der Öffentlichkeit bestimmt, ist dies mit den Ergebnissen der Sozialwissenschaft nicht zu vereinbaren. In der Debatte liegt das Potential einer gesellschaftlichen Revolution. Wenn wir uns der Verantwortung der Gesellschaft klar werden, kann das bisherige Wirtschaftsystem nicht mehr legitimiert werden.

Zum Abschluß möchte ich noch diesen Vortrag von Martin Schürz hier einbinden, der nicht nur die Perversion der Ungleichverteilung aufzeigt sondern auch klarmacht, zu welch irrationalen Fehleinschätzungen die Verantwortung der Schuld beim Individuum in der Selbstwahrnehmung des einzelnen führt.